Memorandum der Arbeitsgemeinschaften philosophischer, germanistischer und musikwissenschaftlicher Editoren

September 2000

Die Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, die Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland und die Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung vertreten insgesamt weit über hundert größere, wissenschaftliche Editionsunternehmen.

In der letzten Zeit hat sich die Diskussion über langfristige Editionsprojekte in der Öffentlichkeit verstärkt, deshalb erinnern die drei Arbeitsgemeinschaften und die editionswissenschaftlichen Studiengebiete an Aufgabe und Leistung von Editionen.

 

  1. Editionen machen öffentlich, was in Archiven und Bibliotheken unveröffentlicht ruht.
  2. Editionen sichern für die Öffentlichkeit die geistige und kulturelle Hinterlassenschaft zurück von der Antike bis in die Gegenwart vor dem Vergessen oder gar vor dem Verlust.
  3. Editionen erschließen durch textkritische und erläuternde Apparate, durch Editorische Berichte und Register die in ihnen veröffentlichten Texte.
  4. Editionen erforschen die mit den edierten Texten verbundenen Kontexte und liefern so das Material zu deren präziser Kenntnis. Sie beziehen sich zwar stets auf Geschichte, gehen aber nicht darin auf, Vergangenes zu berichten. Vielmehr präsentieren sie für die Gegenwart Alternativen wissenschaftlichen Denkens und künstlerischen Handelns.
  5. Editionen wirken nachhaltig auf den Fortgang der Wissenschaft ein. Sie ziehen differenzierende Korrekturen oder sogar umwertende Veränderungen in den Konzeptionen traditioneller Anschauungen nach sich.
  6. Editionen erschließen den wissenschaftlichen und kulturellen Reichtum eines Landes.
  7. Wissenschaftliche Editionen bilden die Grundlage für hochrangige Studien-, Auswahl- und Leseausgaben. Musikalische Kunstwerke werden durch ihre Edition überhaupt erst aufführbar gemacht.
  8. Editionen bieten dem wissenschaftlichen Nachwuchs Chancen und Aufgaben.
  9. Editionen weiten sich in ihren Arbeitsstellen zu Zentren der internationalen Forschung aus und tragen auf diese Weise zum internationalen und interkulturellen Austausch bei. Die großen musikwissenschaftlichen Editionen haben eigene Archive und Institute ins Leben gerufen, in denen sich die entsprechende Forschung konzentriert.
  10. Editionen tragen der internationalen Erwartung an ihr Land, daß es sein kulturelles Erbe allgemein zugänglich mache, Rechnung. Sie sichern ihrem Land und ihrer Sprache - auch über die globalen Netzwerke wie das world wide web - hohe internationale Anerkennung.

 

1. Editionen machen öffentlich, was in Archiven und Bibliotheken unveröffentlicht ruht.

Viele Noten- oder Schrifttexte sind bis heute nicht veröffentlicht. So weist beispielsweise das 'Verfasserlexikon', das um die vollständige Erfassung deutschsprachiger Werke des Mittelalters bemüht ist, aus, daß eine große Zahl bewahrenswerter Texte dieser Epoche nicht ediert ist. Vergangene Kultur in allen ihren Facetten zu beschreiben und zu analysieren, ist indes erst sinnvoll möglich, wenn möglichst viele Quellen der (zunächst) wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht sind.

 

2. Editionen sichern für die Öffentlichkeit die geistige und kulturelle Hinterlassenschaft zurück von der Antike bis in die Gegenwart vor dem Vergessen oder gar vor dem Verlust.

Im Zweiten Weltkrieg sind viele unveröffentlichte Handschriften und Archivalien verbrannt; damit sind sie für immer verloren. Die Verluste des Weltkriegs waren der Anlaß, das kulturelle Erbe durch neue kritische Ausgaben vor weiteren Verlusten zu sichern. In den letzten Jahren hat der Brand der Universitätsbibliothek Sarajevo die Notwendigkeit dieser Vorsicht wieder schmerzlich bestätigt. Das kulturelle Erbe wird aber nur durch Edition wirksam. So konnten erst durch die seit 1962 erfolgende Edition des zum größten Teil unedierten Nachlasses Fichtes - mehr als eineinhalb Jahrhunderte nach dessen Tod - seine am weitesten vorangetriebenen Theorien in die philosophische Diskussion gelangen. Eine heute aktuelle Bedrohung ist der Verfall von Manuskripten durch Tintenfraß (z. B. in den Handschriften J. S. Bachs) oder durch säurehaltiges Papier. Die Buchveröffentlichung, ergänzt durch Verfahren der elektronischen Publikation, wird eine unentbehrliche Möglichkeit der Veröffentlichung und damit der Erhaltung der Texte bleiben.

 

3. Editionen erschließen durch textkritische und erläuternde Apparate, durch Editorische Berichte und Register die in ihnen veröffentlichten Texte.

Noten- und Schrifttexte - auch jüngerer Vergangenheit - bedürfen des textkritischen Apparates, damit der konstituierte Text wissenschaftlich nachprüfbar ist. Sie bedürfen ebenfalls der Erläuterungen, da kein Leser oder Spieler alle Zusammenhänge, in denen die Texte stehen, überschaut. Diese Erläuterungen werden ergänzt durch Angaben zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. Editorische Berichte rechtfertigen zudem die Textkonstitution und machen somit den edierten Text überhaupt erst wissenschaftlich benutzbar. Register schließen den wissenschaftlichen Gehalt der Texte auf.

 

4. Editionen erforschen die mit den edierten Texten verbundenen Kontexte und liefern so das Material zu deren präziser Kenntnis. Sie beziehen sich zwar stets auf Geschichte, gehen aber nicht darin auf, Vergangenes zu berichten. Vielmehr präsentieren sie für die Gegenwart Alternativen wissenschaftlichen Denkens und künstlerischen Handelns.

Indem Editionen das biographische, wissenschaftliche und künstlerische Umfeld der zu edierenden Texte erforschen, präzisieren sie die Kenntnis der Texte und legen die Grundlage für eine wissenschaftliche und künstlerische Interpretation. Sie beziehen sich damit auf jenen Teil der Geschichte, in der ein Text entstanden ist. Dies geschieht aber nicht in historisierender Absicht, sondern in der, die Texte in ihrem erkennbaren Gehalt zum Sprechen oder Tönen zu bringen. Editionen bereiten jeglicher verantwortbaren Interpretation den Boden.

 

5. Editionen wirken nachhaltig auf den Fortgang der Wissenschaft ein. Sie ziehen differenzierende Korrekturen oder sogar umwertende Veränderungen in den Konzeptionen traditioneller Anschauungen nach sich.

Historisch-kritische Editionen, auch bereits bekannter Texte, führen durch die in ihnen niedergelegten Forschungsergebnisse zu differenzierteren Beurteilungen oder Aufführungen. Nicht selten werden Autoren geradezu neu entdeckt, sei es in den Studierstuben, sei es im Konzertsaal oder in der Oper. Beispielsweise wird erst die Edition der letzten Hefte Nietzsches, aus denen die Texte des "Willens zur Macht" exzerpiert wurden, Aufklärung über sein spätes Denken ermöglichen, nachdem schon länger bekannt ist, daß derjenige Text, der unter dem Titel "Wille zur Macht" als Nietzsches letztes Vermächtnis nach dessen Tod ediert war, sein Denken verfälscht.

 

6. Editionen erschließen das wissenschaftliche und kulturelle Potential eines Landes.

Werke der Kunst und der Wissenschaft unerschlossen zu lassen, heißt kulturelle Ressourcen, die ein Land hat, zu verachten. Die großen geistigen Leistungen stützen sich fast immer auf intime Kenntnis vorangegangener. So bieten Editionen die Möglichkeit, die Gegenwart im Rückblick auf die Vergangenheit besser zu verstehen und Innovationen zu evozieren.

 

7. Wissenschaftliche Editionen bilden die Grundlage für hochrangige Studien-, Auswahl- und Leseausgaben. Musikalische Kunstwerke werden durch ihre Edition überhaupt erst aufführbar gemacht.

Kritische Editionen wirken über sich hinaus, indem die in ihnen konstituierten Texte die Grundlage von gesicherten Ausgaben, z. B. Studien- oder Leseausgaben, werden. Der Nutzen der editorischen Arbeit geht weit über die kritischen bzw. historisch-kritischen Ausgaben hinaus.

 

8. Editionen bieten dem wissenschaftlichen Nachwuchs Chancen und Aufgaben.

In Editionen sind mehrere hundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigt. Die hierfür geschaffenen Stellen bieten dem wissenschaftlichen Nachwuchs Tätigkeitsfelder, sei es zur weiteren Qualifikation, sei es als Lebensaufgabe. Die mit modernen elektronischen Erschließungs- und Publikationsverfahren erstellten Editionen bieten den hiermit Beschäftigten die Chance, sich in den Informations- und Kommunikationstechnologien zu profilieren und vielfältig zu qualifizieren. Die Beliebtheit von Studienangeboten zur Editionswissenschaft zeigt, daß Studierende ein reges Interesse an der Grundlagenarbeit des Edierens haben. Dieses Interesse umfassend zu fördern und zu nutzen, kommt weiten Bereichen in Gesellschaft und Wissenschaft entgegen.

 

9. Editionen weiten sich in ihren Arbeitsstellen zu Zentren der internationalen Forschung aus und tragen auf diese Weise zum internationalen und interkulturellen Austausch bei. Die großen musikwissenschaftlichen Editionen haben eigene Archive und Institute ins Leben gerufen, in denen sich die entsprechende Forschung konzentriert.

In Editionsstellen entstehen im Laufe der Zeit wertvolle Materialsammlungen und Ansammlungen von Hilfsmitteln. Hinzu kommt der spezielle Sachverstand der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dadurch werden Editionsstellen zunehmend von den Forschern des In- und Auslandes aufgesucht und zu Zentren der internationalen Forschung und des wissenschaftlichen Austausches.

 

10. Editionen tragen der internationalen Erwartung an ihr Land, daß es sein kulturelles Erbe allgemein zugänglich mache, Rechnung. Sie sichern ihrem Land und ihrer Sprache - auch über die globalen Netzwerke wie das world wide web - hohe internationale Anerkennung.

Denkmalpflege gehört heute zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten. Museen, Kirchen und Schlösser sind besucht wie selten zuvor. Ihre Pflege wird erwartet und hebt das Ansehen des Landes. Ebenso wird die Pflege von Musik, Dichtung und Philosophie - besonders vom Ausland - erwartet. Die Präsentation und Aufbereitung der kulturell bedeutsamen Texte eines Landes zieht internationale Beachtung auf diese, zumal wenn sie im www. allgemein zugänglich gemacht werden. Dadurch läßt sich angesichts der durch Wirtschaft und Technik erwirkten Dominanz der englischen Sprache auch der Gebrauch anderer Sprachen international sichern. Die Bedeutung eines Goetheschen Gedichtes erfährt man letztlich nur in der Sprache Goethes, und Hegel liest man am besten in der Sprache, in der er gedacht hat. Mit den technischen Möglichkeiten lassen sich Originale mit Übersetzungen in andere Sprachen verknüpfen und für alle an der deutschen Sprache Interessierten leichter verständlich machen. Voraussetzung dafür ist die Edition und die editorische Grundlagenforschung; ihre Vernachlässigung ist nicht zur verantworten. Ihre Förderung ist vielmehr Gebot.

Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition
Prof. Dr. Winfried Woesler

Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland e. V.
Prof. Dr. Wilhelm G. Jacobs

Aufbaustudiengang Editionswissenschaft Osnabrück

Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung
Dr. Helga Lühning

Studiengebiet Editionswissenschaft (interdisziplinär), Freie Universität Berlin, FB Philosophie und Geisteswissenschaften / Berliner Arbeitskreis für Editionswesen
Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Gert Roloff

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